von J Michael Heynen
Zukunft rechtzeitig zu antezipieren,
Determination aus freiem inneren Willen zu entwickeln, die
europäische Vision normativer Ordnung in integrative, souveräne
Regierungsmacht zu transformieren, das hat Europa, die EU, nicht
geleistet. National-bourgeoise Selbstgefälligkeit wurde lediglich
quantitativ summarisch in intergovernmentaler Koordinierung
repräsentiert, Wohlstandsmehrung von innen und Krisendruck von außen
trieben zum kleinsten gemeinsamen Nenner minimalistischer Kohäsion.
Und dabei ging expansive Dazugehörigkeit vor Rechtsstaatlichkeit.
Inzwischen ist sogar die eingestellte Gewaltfreiheit, mit dem
Friedensnobelpreis kreditiert, in unmittelbarer Gefahr, denn das
„Europäische Haus“ ist in die existentielle Konsequenz seines
Unterbaus gedrängt; „Wille und Vorstellung“ aus europäischem
Geist sind endgültig vaporisiert, die Akteure operieren konzeptions-
und wahrnehmungslos.
Das ist nicht der Vorspann zu
einer Grabrede auf Europa, sondern im Gegenteil: die abstrakte
Fassung von Ursache und Wirkung versagenden europäischen Regierens
spätestens seit 2000. Es ist die Formulierung von Erkenntnis und
Konsequenz: Während der europäische Geist 1950 noch Schlagbäume
niederriss, geht es heute wieder um kleinmütige
Territorialinteressen, denen Menschenleben geopfert werden;
politische Macht ist nicht kluge Gestaltung, sondern rohe Gewalt. Und
es bestätigt sich die Erkenntnis von Alvin Toffler: „Wer keine
eigene Strategie hat, ist Teil der Strategie anderer!“ Wie vor 30
Jahren Jugoslavien, so führt heute der Ukrainekrieg direkt vor, was
es ist und wie es funktioniert: systematisches europäisches
Politikversagen!
Wenn Europa fortgesetzt nur als
fremdbestimmtes Verwaltungsgebiet und als bloße Marktmacht begriffen
wird, wird es politisch weiter marginalisiert und die Klarheit aus
humanistischer Vernunfttradition endgültig ganz verspielt. Die
vegetative Existenz wird sich dann wohl auch bald in einem Vegetieren
auflösen, menschlicher Geist und freier Wille werden dann
transhumanistischen Algorithmen geopfert. Und eine Welt ohne Europa
ist dann nicht nur eine Welt ohne eine reale
freiheitlich-demokratische Grundordnung, sondern eine Welt ohne das
entscheidende, das humanistische Potential auch global möglicher
Zivilität. Denn Europa, die EU, wurde im Grundsätzlichen aus der
Vernunft seiner reichen Seele geformt, aus Überzeugung gemäß
individueller Geistführung, nicht aus Gewalt und messianistischer
Welterlösung. Das gilt insbesondere im Vergleich zu den sich als
Weltmacht gerierenden Großmächten, die sich fortgesetzt in
missionarisch-egomanischer Projektion als konkurrierende Treiber
einer „neuen Weltordnung“ versuchen – eine latente Gefahr für
die gesamte Zivilisation.
Wann endlich begreift sich
Europa – sich um seiner Selbst willen und für diese Welt? Ist
lebensgefährdender, erbärmlicher Kleinmut nicht endlich zu
überwinden? Braucht es noch mehr Versagen und Menschenopfer? Kann
nicht endlich ein „Europäisches Haus“ entstehen aus der tiefen
Kraft seiner inneren Mitte und zivilisatorisch-humanistischen
Hochentwicklung? - Dieser Planet ist ein Raum des freien Willens, und
Europa war einer möglichen Erfüllung am nächsten. Die Chance der
endgültigen, nachhaltig selbstbestimmten Erfüllung erscheint
dennoch wiederholt gegeben: im Rahmen einer neuen europäischen
Nachkriegsordnung, angestoßen durch ukrainische Opfer und
destruktive russische Politikführung. Zusammen (!) ist die
europäische normative Ordnung proaktiv zukunftsfest zu entwickeln
und innovativ wie transformativ auszugestalten.
© J Michael Heynen - Gründungspräsident des Senate of Cultures
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